Sprache in der Migrationspolitik

Die demokratische Mitte rückt verbal nach rechts – und das hat Folgen

Migranten aus verschiedenen afrikanischen Nationen warten in einem Boot auf Helfer der spanischen NGO Open Arms, die sich ihnen 122 Meilen vor der libyschen Küste im Mittelmeer nähern (Symbolbild).

Migranten aus verschiedenen afrikanischen Nationen warten in einem Boot auf Helfer der spanischen NGO Open Arms, die sich ihnen 122 Meilen vor der libyschen Küste im Mittelmeer nähern (Symbolbild).

Innerhalb weniger Wochen hat sich die politische Debatte über den Umgang mit Menschen, die nach Deutschland fliehen, immens verschärft. Jens Spahn (CDU) will „physische Gewalt“ gegen „irreguläre“ Migrantinnen und Migranten, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert Abschiebungen „im großen Stil“ und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will Sozialleistungen für Asylsuchende kürzen, um „Anreize“ zu mildern. Es ist eine Rhetorik, wie man sie bisher aus dem politisch rechten Spektrum gewohnt ist. Was ist das für ein Wind, der da plötzlich in der demokratischen Mitte weht?

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„Der rechtskonservative Diskurs beginnt zunehmend, das gesamte politische Spektrum zu bestimmen und auch die Worte, mit denen man über das Thema spricht“, sagt Isabella Löhr, Professorin für Internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Wir haben eine semantische Verschiebung Richtung Rechts im politischen Diskurs.“

Integrationsbeauftrage der Bundesregierung: „Scheinlösungen spalten unsere Gesellschaft“

Eine Entwicklung, die Reem Alabali-Radovan, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, kritisch sieht: „Eine Tonlage, die immer schärfer und populistischer wird sowie täglich neue Scheinlösungen präsentiert, spaltet unsere Gesellschaft in ‚Die anderen‘ und ‚Wir‘“, sagt sie dem RND. „Es ist falsch, die Migrationsfrage als Ursache für sämtliche Probleme in unserem Land heranzuziehen, vom Gesundheitswesen bis in den Bildungsbereich. Gerade in diesen angespannten Zeiten muss die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts oberste Priorität haben.“

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Eine Tonlage, die immer schärfer und populistischer wird sowie täglich neue Scheinlösungen präsentiert, spaltet unsere Gesellschaft in ‚Die anderen‘ und ‚Wir‘.

Reem Alabali-Radovan,

Integrationsbeauftragte der Bundesregierung

Deutschland habe von seiner Einwanderungsgeschichte immer profitiert. „Die Bundesregierung steht zum Flüchtlingsschutz“, so Alabali-Radovan. „Menschen mit Einwanderungsgeschichte, ihre Kinder und Enkel sind selbstverständlich Teil dieses Landes.“

Auch der Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, José F.A. Oliver, erkennt in der aktuellen politische Debatte wenig Konstruktives: „Diese Wortwahl ist unsäglich und im Grunde ihres Wesens ein Angriff auf die Würde der Menschen, die zur Flucht gezwungen werden. So schafft man keine Sensibilisierung in der Gesellschaft, sondern beschreibt die eigene politische Unfähigkeit, den Menschen eine Orientierung ins Zusammenleben zu geben“, sagt er dem RND.

Großes Wählerpotenzial für rechte Positionen

Aber woher rührt der rhetorische Wandel in der Politik? Ein Grund ist: Das Wählerpotenzial ist hoch. Drastische Forderungen in Sachen Migrationspolitik kommen bei vielen Menschen in Deutschland gut an. Das haben nicht zuletzt die hohen Zahlen der rechtsextremen AfD bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern gezeigt. „Der rechtskonservative Diskurs, der Migration und Flucht als zentrale Probleme unserer Gegenwart begreift, ist enorm erfolgreich“, erklärt Löhr. „Dieses Wählerpotenzial wollen CDU/CSU und auch die FDP angesichts der nächsten Landtagswahlen für sich gewinnen. Deswegen verschärfen sie gerade den Diskurs.“

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Ein zweiter Grund: Der Nahostkonflikt und seine Auswirkungen auf Deutschlands Straßen. „Die antiisraelischen Proteste, insbesondere in Berlin-Neukölln, werden instrumentalisiert von CDU/CSU, um eine Verschärfung der Migrationspolitik durchzusetzen“, sagt Löhr.

Isabella Löhr ist Professorin für Internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

Isabella Löhr ist Professorin für Internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts an der FU Berlin und leitet am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam die Abteilung „Globalisierungen in einer geteilten Welt.“

Nach Einschätzung von Löhr zeigt sich die sprachliche Verschiebung besonders deutlich in einem Begriff, der sich aktuell als Schlagwort für Menschen, die nach Deutschland migriert sind, etabliert: „Illegale“ oder „irreguläre“ Migrantinnen und Migranten. „Wenn man nicht mehr von politisch Verfolgten, sondern vom Migrantinnen und Migranten spricht, wird der legitime Grund, in einem anderen Land Schutz zu suchen – was Grundlage des Völker- und Europarechts ist – unsichtbar gemacht“, sagt Löhr.

Die „Wirtschaftsflüchtlinge“: Sprache schafft Realitäten

Wer nur von Migrantinnen und Migranten spricht, erweckt also den Eindruck es gebe keine Menschen mehr, die wegen politischer Verfolgung flüchten. Dabei werden rund 50 Prozent der Asylanträge genehmigt – es gibt die politisch Verfolgten also weiterhin, sie verschwinden nur hinter dem Wort „Migrant“. „Das Gebot, Verfolgten Schutz zu bieten, spielt in der politischen Sprache gerade keine Rolle“, sagt Löhr. Durch das Adjektiv „irregulär“ oder „illegal“ werde die Migration zudem von vorneherein delegitimiert. „Die Forderung von Jens Spahn, physische Gewalt anzuwenden, ist der traurige Höhepunkt dieser Sichtweise.“

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Und Sprache bleibt nicht nur Sprache – besonders in politischen Fragen schafft sie Realitäten. „Mit einer Radikalisierung der Sprache geht auch eine Radikalisierung der inhaltlichen politischen Forderungen einher“, sagt Löhr. „Die Verschiebung zu einer Terminologie, die stark von rechts dominiert wird, geht einher mit Wertungen, mit Vorstellungen davon, was legal oder nicht legal sein sollte – und mit Hierarchien zwischen Menschen und Vorstellungen darüber, wer mehr oder weniger Rechte bekommen sollte.“

Wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner und Marco Buschmann (beide FDP) also fordern, Sozialleistungen für Asylsuchende zu kürzen, um „Anreize“ zu verringern, ist darin impliziert: Es gibt Menschen, die nur nach Deutschland migrieren, um vom Sozialstaat zu profitieren. Zugespitzt formuliert: Hier kommen keine Flüchtenden, sondern Sozialschmarotzer. Eine Vorstellung, die es bereits seit den 1980er-Jahren in Deutschland gibt.

Damals wurden diese Menschen „Wirtschaftsflüchtlinge“ genannt und waren die Hassfigur der Asyldebatte. „Neben Asylsuchenden und Arbeitsmigranten waren Wirtschaftsflüchtlinge eine Art dritte Kategorie“, sagt Löhr. „Gerade verschmilzt diese Kategorie mit dem Begriff ‚Migrant‘. Dadurch entsteht gesellschaftlich das Bild: Ein Migrant ist der, der zu Unrecht hier ist.“

Empathielosigkeit in der Asyldebatte

Vorstellungen wie diese befördern die Empathielosigkeit in der Migrationspolitik. Es wird konsequent ausgeblendet, was eine Flucht für Menschen bedeutet. Es ist egal, dass auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ valide Gründe haben können, nach einem besseren Leben zu suchen – selbst wenn sie deswegen in Deutschland kein Asyl bekommen.

Die Asyldebatte hat sich totalisiert. Man bekommt das Gefühl, es geht um Gegenstände, die man möglichst schnell wieder loswerden muss.

Isabella Löhr,

Professorin für Internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts (Freie Universität Berlin)

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„Die Debatte hat sich auf gewisse Weise totalisiert. Man bekommt das Gefühl, es geht um Gegenstände, die man möglichst schnell wieder loswerden muss“, kritisiert Isabella Löhr. Es werde weder nach Fluchtmotiven, Herkunftsländern, Altersgruppen, Qualifikationen noch nach völkerrechtlichen Verpflichtungen und Vorgaben differenziert. „Wir erleben eine enorme Pauschalisierung, die dazu führt, dass die betroffenen Menschen gar nicht mehr als solche wahrgenommen werden.“

ARCHIV - 10.02.2023, Hessen, Bensheim: Flüchtlingskinder gehen durch ein Zelt der Flüchtlingsunterkunft.

Hunderttausende Menschen sind nach Deutschland geflüchtet. Sie alle gut unterzubringen, ist schwer. (zu dpa: «Eine Milliarde Euro mehr») Foto: Arne Dedert/dpa - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++

Kommentar: Bei der Flüchtlingsdebatte bitte mehr Maß und Mäßigung!

Wird über Flüchtlings­politik geredet, kochen die Emotionen hoch – verbale Härten und Entgleisungen nehmen auch in der politischen Debatte zu. Eine ganz schlechte Idee, denn gerade jetzt sind Maß und Mäßigung nötig, um den Populisten kein neues Futter zu geben, meint Markus Decker.

Eine Verschiebung, die schon jetzt weitreichende Folgen haben kann – nicht nur sprachlich. „Auf EU-Ebene wird gerade diskutiert, inwieweit man menschenrechtliche Schutzstandards lockert zugunsten einer Grenzsicherungspolitik, die erstmal pauschal davon ausgeht, dass Migration irregulär ist“, erzählt Löhr. „Dass man als Staatengemeinschaft verfolgten Menschen Schutz anbieten muss und humanitär handeln sollte, ist eine der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg. Die werden gerade schrittweise in Frage gestellt. Der semantische Rechtsruck hat also schon Konsequenzen auf einen der Grundpfeiler der Flucht- und Asylpolitik der Nachkriegszeit.“

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